Kapitel 24

Bild: Yentl Fasel
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Regungslos, aschfahl, mit zerschlagenem Körper, liegt Dorn Sekunden später vor ihr auf dem Bett. Der Anblick ist beinahe zu viel für Fay. Er ist so schwer verletzt. Kann er das überhaupt überleben? Wird sie ihn für immer verlieren? Die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Aber sie darf sich ihr nicht hingeben. Sie ist die Einzige, die tun kann, was jetzt getan werden muss. «Er ist ein Krieger, Fay. Er wird kämpfen bis zum letzten Atemzug.» Der Zuspruch kommt ausgerechnet von Cael und reißt Fay aus ihren angstvollen Gedanken. Mit einem tiefen Atemzug konzentriert sich Fay auf ihre Fähigkeiten als Heilerin und gibt mit klarer Stimme Anweisungen: «Lee, nenne mir alle lebensgefährlichen Verletzungen. Um diese kümmern wir uns zuerst. Ayla, halte Dorn, wenn er es zulässt. Wir brauchen Ilas Heilkraft.» Mit der ihr eigenen Ruhe setzt sich Ayla an das Fußende des Bettes. Doch Ila hat Einwände. «Was, wenn er bei ihr nicht hält? Ich werde ihn nicht noch einmal aufhalten können.» Ayla beruhigt sie: «Wir machen die Übergabe langsam. Schont Ila solange. Ich werde euch sagen, wenn ich ihn ganz habe.» Fay nickt nur und blickt dann zu Lee. «Milzriss, Leberriss, Hämatothorax, Schädelbruch mit Einblutungen», sind seine Diagnosen und das ist erst der Anfang. «Wir brauchen Sangsuir», murmelt Fay. «Sagt, was ihr benötigt, wir werden es für euch beschaffen», versichert Cael. Sofort rattert Fay herunter, was hergebracht werden muss. «Uns läuft die Zeit davon. Die erste Heilungswelle machen wir gleichzeitig. Ila, du übernimmst Milz und Leber, Filou, du den Hämatothorax, ich den Schädelbruch und die Hirnblutungen. Versucht zu heilen, soviel ihr könnt, aber achtet auf euch!», weist Fay ihre Leute an. Das gesamte Zimmer leuchtet silbern, als die Heiler gleichzeitig ihre Arbeit aufnehmen. Es grenzt an ein Wunder, aber sie schaffen es tatsächlich, diese lebensbedrohlichen Verletzungen in der ersten Heilungswelle zu stabilisieren. Ila schafft es sogar, die Milz vollständig wiederherzustellen. Danach ist sie sehr erschöpft und Cael sorgt dafür, dass sie sich in einen bequemen Sessel setzt und sich ausruht. Auf keinen Fall will Ila das Zimmer verlassen. Ein Umstand, der Cael zwar nicht gefällt, aber durchaus versteht. Nur deshalb zwingt er Ila auch nicht dazu. Er gibt ihr jedoch zu verstehen, dass er eingreifen wird, wenn Ila sich selbst in Gefahr bringt. «Ich habe Dorns Geist und Seele übernommen», informiert Ayla da. Für Fay eine Erlösung, denn jetzt kann Ila sich ganz auf die Heilung konzentrieren, was diese weniger Kraft kosten dürfte. Inzwischen wechseln sich die Heilerinnen und Heiler ab, so kann sich jeder ausreichend erholen. Die herbeigeschafften Heilkerzen sind entzündet und verströmen ihren würzigen Duft.. Für die Heilerinnen und Heiler ist ausreichend Feramufor da. Auf Caels Bitte hat Cree das Feramufor für Ila gesendet. Für jeden der beteiligten Heilerinnen und Heiler entwickelt sich trotz der Ausnahmesituation ein gewisser Rhythmus von heilen und ruhen. Dadurch können sie alle durchhalten. Im Wissen, dass jeder von ihnen über ihre eigenen Grenzen geht. 

Bild:Shotshop
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Es ist im Morgengrauen, als sie beginnen können, Dorn Sangsuir einzuflößen. Tränen der Erleichterung brennen in Fays Augen, als Dorn es tatsächlich schafft, den Heiltrank zu schlucken. Sie ist so erschöpft, dass sie schwankt. Das bringt ihr besorgte Blicke der anderen Heiler ein. «Du solltest dich etwas hinlegen», meint Lee. Doch Fay schüttelt nur den Kopf. Sie wird Dorn nicht verlassen. Da öffnet sich die Tür und Kyle streckt den Kopf herein. «Vor den Schutzkreisen des Wolfsturm stehen die Dark Crow und wollen wissen, was mit ihrem Alpha ist. Ich bin mir nicht sicher, aber die Situation wirkt brenzlig», schildert er. Sofort ist Cael hellwach. «Was soll das heißen?“ «Na ja, irgendwie scheinen sie der Meinung zu sein, dass wir etwas mit dem Angriff zu tun haben», rückt Kyle zögernd mit der Sprache raus. Cael flucht leise vor sich hin. Eine Horde Dark Crow kurz vor der Eskalation kann er jetzt echt nicht gebrauchen. Es ist seine Aufgabe das zu klären. Wenn irgendwie möglich ohne Gewaltanwendung und wenn nicht, wird er bestimmt nicht den Schwanz einziehen. Aber er will Ila jetzt nicht allein lassen. Sie braucht ihn. Bereits jetzt sucht sie alarmiert den Kontakt zu ihm. Cael ist hin und her gerissen, zwischen seiner Verpflichtung als Alpha und seinem natürlichen Bedürfnis Ila beizustehen. Da taucht in Kyles Rücken Ella auf und versichert: «Bleib bei Ila. Wir klären das.» Irritiert blickt Kyle auf seine Cousine. «Tun wir das?» Diese verschränkt die Arme und erwidert in absoluter Überzeugung: «Ja. Sag mir nur eines Cael, hat Dorn eine Chance?» Unschlüssig zuckt Cael mit den Schultern. Er hat keine Ahnung. Lee kommt hinzu. «Hat er, aber nur das. Ich komme mit euch. Mir werden sie vielleicht eher zuhören. Ich bin kein Clanmitglied und ein Heiler. Deshalb gelte ich als neutral.“ Ella nickt zustimmend und die Gruppe verlässt den Raum.

Vor dem Wolfsturm, hinter den Schutzkreisen, die Cael und seine Kämpfer gezogen haben, machen sich die Dark Crow bereit anzugreifen. Als Ella, Kyle und Lee ihnen gegenübertreten, brodelt die aggressive Stimmung förmlich über. Kai, Dorns Stellvertreter stellt sich bedrohlich vor die ankommende Gruppe. «Gebt ihn heraus, oder wir legen dieses Haus mitsamt allen Black Wolves in Schutt und Asche!», droht er. Kai ist zu allem bereit, das ist deutlich zu spüren. Für ihn ist das die einzige Möglichkeit seine Loyalität gegenüber seinem Alpha Dorn zu demonstrieren. In der Cumbatsidat sind ihm die Hände gebunden gewesen. Dieser komische Schwarzmagische Schutzkreis hat verhindert, dass sie Dorn schützen konnten. Die Täter sind ihnen allesamt entwischt. Aber Dorn werden sie nicht aufgeben. Sie werden ihn retten. «Versucht es, und die Dark Crow sind Geschichte!», warnt Kyle, Er ist außer sich. Wie können diese Vollidioten es wagen, sie derart zu bedrohen? Sie, die ihren Alpha nicht nur befreit haben, sondern ihm jetzt auch Schutz gewähren. Kai zieht bereits mit der Faust auf, da stellt sich Ella zwischen die Magier. Beide wollen sie zur Seite schieben, doch obwohl Ella so klein ist, weicht sie nicht. Fest blickt sie Kai an. Kraft, Willen und Klarheit strahlt sie aus. So viel, dass sie die gesamte Meute verstummen lässt. «Ehrenwerte Dark Crow, ihr seid aufgewühlt und in großer Sorge um euren Alpha. Das verstehe ich. Aber ich bitte euch, hört mich an und entscheidet danach über euer Handeln. Viele von euch waren in der Cumbatsidat, als Dorn angegriffen wurde. Ihr habt gesehen, wie Cael Ila erlaubt hat, diesen Schutzring aufzulösen. Ihr habt miterlebt, wie die Black Wolves Dorn, Fay und die Heilerinnen und Heiler vor Angriffen geschützt haben. Wie könnt ihr da glauben, dass es die Black Wolves waren, die Dorn so hinterhältig und feige angegriffen haben?» Kurzes Schweigen. Dann ertönt eine Stimme aus der Menge: «Aber er ist hier, in eurem Wolfsturm! Bei seinen Feinden!» Kyle öffnet schon den Mund, um etwas zu erwidern, doch Ella hält ihn zurück. Noch immer ist sie völlig ruhig und gelassen. «Er ist hier. Aber nicht, weil ihm hier Schaden zugefügt werden soll. Wäre das unsere Absicht gewesen, hätten wir Dorn auch einfach im Ring sterben lassen können.» «Aber warum ist er hier und nicht in unserem Territorium?», wird weiter gefragt. Diesmal macht Kyle keine Anstalten sich zu äußern. Bewundernd beobachtet er seine Cousine, welche die Situation absolut im Griff hat. «Wir wissen nicht, wer Dorn angegriffen hat. Deshalb hielten wir den Wolfsturm für den sichersten Ort für ihn und die Heiler. Unser Alpha ist bei Kräften und kann die Schutzkreise deshalb auch weiter aufrecht erhalten», begründet sie ruhig. Nun ist es still. Die Aggression, die eben noch in der Luft gelegen ist, löst sich auf. Sie macht Scham und ehrlicher Sorge Platz. Innerlich atmet Ella auf, sie hat die Dark Crow tatsächlich erreicht. Beschämt senkt Kai den Kopf. «Habt Dank für eure Hilfe. Kannst du mir sagen, wie es um unseren Alpha steht?» Nun ergreift Lee das Wort. «Er hat eine Chance, zu überleben. Die Verletzungen sind schwer, aber er ist ein Krieger.» «Kann ich ihn sehen?», will Kai nun wissen. Lee schüttelt ablehnend den Kopf. «Die heilenden Energien sollten so wenig wie möglich gestört werden.» Mit einem Kopfnicken akzeptiert Kai diese Erklärung. «Wir werden euch über Dorns Gesundheitszustand informieren. Ich bitte euch, mit der Suche nach den Tätern zu warten, um Dorns Sicherheit nicht zu gefährden. Sprecht so wenig wie möglich über Dorns Zustand. Und sollte es nötig sein, werden die Black Wolves an eurer Seite sein, um euren Alpha zu rächen», fügt Ella hinzu. Kai blickt in das Gesicht der Hexe, ihm gegenüber. Er kann sich nur vage an ihren Namen erinnern. Sie selbst sieht ihn an, völlig in sich ruhend. Kai findet, dass sie wahrhaft königlich aussieht. Und auch die anderen Gangmitglieder spüren die Kraft, die von ihr ausgeht. Da geschieht das Unfassbare. Ausnahmslos alle Dark Crow legen ihre rechte Hand auf ihr Herz und neigen den Kopf. Das ist der respektvolle Gruß unter Kriegern. Er gilt Ella, die ihn anmutig erwidert.

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«Du warst unglaublich!», staunt Kyle noch immer, als Ella, Lee und er bereits wieder aus dem Aufzug steigen, der sie zurückbringt. Die Angesprochene lächelt nur. Mit knappen Worten berichtet sie Cael, was vor dem Wolfsturm geschehen ist. Sie bespricht mit ihm, dass sie es sein wird, die den Kontakt zu den Dark Crow aufrecht erhält. Als Ella den Raum verlassen will, hält Cael sie zurück. «Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet. Ohne dich hätte es heute Krieg geben können.» Ella nickt. «Ich habe einfach gewusst was zu tun ist. Es zu tun, hat aber einiges an Mut gebraucht», gibt sie offen zu. Nachdenklich blickt Cael ihr nach, als sie nun endgültig das Zimmer verlässt.

Vier Tage sind die Heilerinnen und Heiler fast ununterbrochen damit beschäftigt Dorn zu heilen. Fay weicht keine Minute von seiner Seite. Nur weil die anderen sie dazu überreden, schläft sie wenige Stunden im Sessel direkt neben seinem Bett. Am liebsten würde sie neben ihm liegen, ihn festhalten, damit er erkennt, dass sie da ist, und sie ihn niemals loslässt. Doch das würde die anderen Heiler behindern. Auch Ila ist fast immer bei ihrem Bruder. Als sie jedoch am Rande der Erschöpfung zu schwanken beginnt, schreitet Cael ein. Wortlos hebt er die matt protestierende Ila einfach hoch und trägt sie in sein Schlafzimmer. Noch bevor er sie auf dem Bett abgelegt hat, schläft Ila bereits. Nur wenige Stunden später ist sie jedoch wieder am Bett ihres Bruders.

Es ist Mitternacht in der Nacht auf den fünften Tag als Aylas leise glockenhelle Stimme verkündet: «Ich habe ihn gerade losgelassen. Die Gefahr ist vorüber, er lebt.» «Yes!», jubelt Filou und streckt seine Faust in die Luft. Weinend vor Glück fallen Ila und Fay sich in die Arme. Cael umarmt sie beide. Seinem Beispiel folgen Biene, Cella und Ayla. Erschöpft, aber ebenso erleichtert fährt sich Lee übers Gesicht, bevor er sich den anderen zu wendet und sie ebenfalls umarmt. Dabei drückt er ganz kurz Ayla an sich. Er versucht so, ihr seine Bewunderung auszudrücken und ihre großartige Leistung zu würdigen. Schließlich ist es Ayla gewesen, die Dorns Seele über Tage in der irdischen Welt gehalten hat. So stehen sie alle eine Weile einfach nur da. Außer dem Schluchzen der beiden Hexen ist nichts zu hören. Das Zimmer, das ganze Haus ist erfüllt vor Demut über die Gnade, die sie gerade erfahren haben. Bis lautstarker Jubel zu ihnen herüber dringt. Ella hat die Dark Crow informiert und deren Reaktion für sie alle hörbar gemacht. Glück und Liebe flutet den Raum. «Ich danke euch allen von ganzem Herzen für das, was ihr für Dorn und somit auch für mich getan habt. Geht jetzt nach Hause und erholt euch. Morgen beginnen Ila und ich damit, die restlichen Verletzungen zu heilen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass auch dies gelingen wird», erklärt Fay, als sich alle wieder voneinander gelöst haben. Nacheinander verabschieden sich die Heilerinnen und Heiler. Sie alle sind erschöpft und freuen sich darauf, sich endlich erholen zu können. Cael bringt Ila in ihr gemeinsames Bett, wo auch diese zur Ruhe kommt.

Nun ist Fay endlich mit Dorn allein. Dankbar blickt sie auf den noch immer in tiefem Heilschlaf liegenden Magier. Er wird leben. Diese Tatsache treibt ihr nochmals die Tränen in die Augen. Fay legt sich neben Dorn auf das Bett. Sie kuschelt sich an seine Seite und lässt zu, dass die Erschöpfung auch in ihr Überhand nimmt und sie einschläft.  

Bilder Shotshop, Grafik Canva
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Der Schmerz ist elementar. Tiefrot und gleißend erfüllt er Dorns Körper, seinen Geist und seine Seele. Er kämpft, wie er es sich gewohnt ist. Nach oben, auch wenn er nicht genau weiß, wohin ihn das führt. Der Schmerz steigert sich ins Unermessliche, es gibt nichts, was damit vergleichbar wäre. Er muss da weg, ganz weg, sich lösen von diesem Körper, der nur noch Pein ist. Wieder sind sie da, die beiden Lichter, die ihn halten und vor seinem Schmerz abschirmen. Das eine Licht ist fein, friedvoll und schimmert leicht violett, das andere hat Kraft, Entschlossenheit und schimmert grün. Beide sind voller Liebe. Ila und Fay, sie führen ihn wieder nach unten, in die Dunkelheit, weg vom Schmerz.

Sein Geist wird angerührt, violettes Licht, seine Schwester. «Dorn, dein Körper ist bald geheilt. Aber da ist noch etwas. Auf deiner Seele sind zwei Wunden.» Er hat es nicht für möglich gehalten, dass in einer so tiefen Bewusstlosigkeit eine Kommunikation überhaupt möglich ist. Erstaunt stellt er fest, dass er sogar antworten kann. «Was bedeutet das?», fragt er nun. «Der Angriff auf dich hat nicht nur deinen Körper verletzt, sondern auch deine Seele. Du bist dem Tod näher gewesen, als dem Leben und hast mit aller Kraft dagegen gekämpft. Du hast Todesängste um Fay ausgestanden. Bestreite es nicht, Dorn, ich sehe es in deinem Geist. Im Ring hat dich der Gedanke an Fay und die Gefahr, in der sie schwebt am Leben gehalten. Das und die Tatsache, dass du ein Krieger bist, hat dir das Leben gerettet. Diese Wunde ist frisch, aber da ist noch eine zweite, vernarbt, teilweise wieder aufgerissen. Von ihr fühle ich dieselbe Angst: jene um einen geliebten Menschen. Mehr sehe ich nicht.» Jetzt nimmt auch Dorn die beiden Wunden wahr. Die eine ist leuchtend rot, die andere schwarz verfärbt, mit roten Einrissen. «Ich kann sie heilen, beide Wunden. Aber ich will es nicht ohne deine Erlaubnis tun. Denn wenn ich es tue, werde ich alles wissen, was zu diesen Wunden geführt hat», verdeutlicht Ila. Still wartet sie ab, bis Dorn sich darüber klar wird. «Wenn ich sie behalte?» Als Krieger ist Dorn sich Narben gewohnt. Deshalb ist er sich nicht sicher, ob es ein Gewinn wäre, eine makellose Seele zu haben. Das würde irgendwie nicht zu seinem Wesen passen. «Deine Seele wird danach nicht völlig unversehrt sein. Das ist sie bei keinem lebenden Wesen. Diese beiden Wunden haben einen großen Einfluss auf dein Leben. Ich kann dir nicht genau sagen wie. Aber es kann Situationen geben, in denen du die Gefühle von damals noch einmal erlebst. Dieselbe Angst, denselben Schmerz und auch die Hilflosigkeit. Und du wirst genauso reagieren wie damals», führt ihm Ila vor Augen. Dorn ist sofort klar, welche Auswirkungen diese Narben auf sein Wesen haben. Durch den Verlust seines besten Freundes Gor, der vor seinen Augen im Ring starb, hat sich Dorn geweigert, jemals wieder einen Menschen so nah an sich heran zu lassen. Der Verrat, welcher an Gor begangen wurde, löst in ihm das Bedürfnis aus, stets über alles und jeden die Kontrolle zu haben. Beides Dinge, die vor allem seiner Liebe zu Fay und einem gemeinsamen Leben im Weg steht. Damit sollte für ihn der Fall eigentlich klar sein. Dennoch zögert Dorn. Wenn er es tut, liefert er sich Ila aus. Er ist sich nicht sicher, ob er das kann. Wieder wartet Ila einfach ab. Sie sagt oder tut nichts, um ihn zu beeinflussen. Und das obwohl Dorn sehr deutlich spürt, wie sehr sie sich wünscht, ihn auch auf diese Weise heilen zu dürfen. «Wird Fay oder sonst jemand es mitbekommen?», fragt er nun. «Nein, dies geschieht zwischen dir und mir», erwidert sie. Noch einmal zögert er, gesteht sich ein, dass er tatsächlich Angst davor hat. «Schwör, dass du niemals mit jemandem über das, was du hier erfährst, sprechen wirst.» Es ist sein Versuch, noch irgendwie die Kontrolle zu behalten. «Ich schwöre es, mein Bruder.» Ohne zu zögern kommt Ila seiner Forderung nach. «Dann tu es», sagt Dorn und begibt sich bereitwillig in Ilas Hände. Licht mit elfenbeinernem Schimmern umhüllt ihn. Leise erklingt Ilas Stimme, so hell und klar und so schön, dass Dorn die Tränen kommen. Kurz fragt er sich, ob er wohl tatsächlich weint und hofft, dass niemand es sehen wird. Eine Welle der Angst überflutet ihn. Sie ist nicht real, diese Angst kommt aus dieser Wunde, es ist die Angst, die er im Ring gefühlt hat. Ihr folgt Ohnmacht und Wut. Er lässt sich nicht von diesen Gefühlen fortspülen, sondern hält sich an Ilas Licht und ihrer Stimme fest. «Das war die Cumbatsidat, jetzt kommt die Narbe. Das wird wahrscheinlich heftiger werden, weil du sie schon länger mit dir herumträgst», warnt Ila ihn. Und dann kommen sie, unzählige Wellen von Enttäuschung, Ohnmacht und vernichtender Wut fegen durch Dorn hindurch. Am Ende bleibt er zurück, in tiefer erdrückender Trauer. Vor ihm erscheint jener Freund, den er so früh und so brutal verloren hat. «Gor.» flüstert er. Nun weint er wirklich und es ist ihm völlig egal, ob jemand es sieht. Das Mitgefühl und die Liebe seiner Schwester umarmen ihn sogleich. «Gefühle sind dazu da, damit wir sie durchleben und verwandeln können. Lass es einfach zu und es wird geschehen», ermutigt Ila ihn. Ungebremst lässt Dorn die Trauer aus sich herausfließen Selbst wenn er wollte, könnte er es nicht mehr aufhalten. Langsam ebbt die Trauer ab und macht Platz für etwas anderes. «Werde ich ihn jetzt vergessen?», fragt Dorn. «Nein, er bleibt in deinem Herzen.» Noch einmal blickt Dorn auf diese Gestalt vor ihm. Es ist ein Schatten. Erinnerungen kommen in Dorn auf. Gor, der Alpha, der die Dark Crow anführte und zu einer Größe in der Cumbatsidat machte. Gor, der überragende Krieger, von dem er gelernt hat zu kämpfen. Gor, sein bester Freund, mit dem er so viel gelacht hat. Der Schatten löst sich langsam auf und Dorn lässt es zu. Es ist heller lichtvoller Frieden, der sich nun in ihm ausbreitet. Ihm ist klar, dieser Frieden gehört ab heute zu seinen Erinnerungen an Gor. Ruhe und Kraft erfüllen ihn nun. Er wird gesund werden und wieder kämpfen. Er wird den Clan weiter anführen. Da stockt er. «Bin ich jetzt ein Weichei? Also ich meine, werde ich jetzt nicht mehr kämpfen wollen?» fragt er. Laut lacht Ila auf und ihre Fröhlichkeit flutet auch seinen Geist. «Du bist und bleibst ein Krieger. Ohne die Herausforderung und das Messen mit anderen kannst du nicht sein.» Irgendwie beruhigt ihn das.

Diesmal kann er ohne große Schmerzen auftauchen. Mit einiger Anstrengung kann er sogar die Lider heben. Und dann blickt er in die grünbraunen Augen seiner Schwester. Sie sind außergewöhnlich, wird ihm gerade bewusst. Sie strahlen, wie er es noch nie gesehen hat. Ila lächelt ihn an, wie sie es noch nie getan hat. Geschwisterliebe, wie er sie noch nie gekannt hat. Fremdes Terrain. «Willkommen im Leben», sagt sie leise und drückt seine Hand. Kann Ila fühlen, wie durcheinander, wie erschüttert er ist? Bei ihrem empathischen Können wird es wohl so sein. Aber sie sagt nichts. Blickt ihn nur weiter an. «Ich muss jetzt gehen. Aber Fay ist ja bei dir.» Fassungslos blickt Dorn die rothaarige Hexe an. «Du bist hier.» Seine Stimme ist nur ein Krächzen. Erbärmlich. Genauso wie er sich eigentlich fühlt. «Natürlich», erwidert sie nur. «Ich habe dich freigegeben», erkennt er. Seine Erinnerungen sind bruchstückhaft. Aber eines glaubt er mit absoluter Sicherheit zu wissen: dass er die Worte gesprochen hat, die Fay, ihre Freiheit zurückgegeben haben. Und doch fühlt Dorn sie in seinem Geist. Deutlicher als jemals zuvor. Und Dorn weiß, Fay fühlt ihn ebenso klar. Angst, nackte pure existentielle Angst erfasst ihn, als er erkennt, was das bedeutet. Ihre Seelen haben sich aneinandergebunden. Geschehen ist das durch eine uralte Magie, älter als die Zeit, grösser als das Universum, stärker als Stahl und durch den Willen unlenkbar. Es ist die Liebe, die diese Verbindung geschaffen hat. «Wir werden erst über unsere Zukunft sprechen, wenn du wieder mit beiden Beinen im Ring stehst. Eines kann ich dir jedoch garantieren: Ich werde dich nicht noch einmal aufgeben!», bekräftigt Fay. Nun bergreift Dorn, dass in seiner Hexe nicht nur das Herz einer Heilerin, sondern auch das einer Kriegerin schlägt.

 

©by Patricia Tschannen, 2024

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