Kapitel 21

Bild: Yentl Fasel
Bild: Yentl Fasel

Fay hat sich geopfert. Sie hat ihr Leben für Ilas gegeben. Diese Überzeugung setzt sich in Ila fest. Stundenlang weint sie, gequält von der Schuld und der Angst um Fay. Gerade jetzt steht sie an der Terrassentür und blickt ins Leere. Besorgte Wesen, die sie lieben, sind um sie herum. Allen voran Cael, aber auch er kann kaum zu ihr durchdringen. Kyle und Björn sind ebenfalls da, noch hilfloser als Cael. Und dann ist auch Lasar kurz vorbeigekommen. Er hat aber vor allem mit Cael gesprochen. Nun legt sich eine kühle Hand sanft auf ihre Schulter. Ila wendet den Kopf und blickt in Crees dunkle, wissende Augen. «Es war Lasars Vorschlag, sie zu rufen. Cree ist seine Tante», erklärt ihr Cael. «Unser Leben ist Schicksal. Und auch wenn wir unsere eigenen Entscheidungen treffen, geschieht, was geschehen muss. Fay ist da, wo sie sein soll», erläutert Cree. «Ich habe Angst um sie», flüstert Ila und wieder rinnen Tränen über ihre Wangen. Ila kennt ihren Bruder, weiß mehr über ihn als alle anderen. Sie ist überzeugt, dass er lieben kann, auch wenn er selbst das nicht mehr glaubt. Noch mehr weiß Ila aber auch, wie gnadenlos er sein kann. «Ängstige dich nicht, Ila. Es ist nicht Fay, die in Gefahr ist.» prophezeit Cree. Es dauert noch einige Tage, bis Ila wieder so etwas wie Normalität leben kann. Sie probt weiter mit Wolfblood,das tut ihr gut. . Eine gewisse Traurigkeit bleibt jedoch in ihr. Und dann ist da noch die Unsicherheit bezüglich ihrer eigenen Zukunft. Der Gedanke, zur Seelenheilerin zu werden, lässt Ila nicht los. Immer wieder bespricht sie sich mit Cael darüber. Auch sein Leben ist davon betroffen, wenn Ila sich für diesen Weg entscheidet. Allerdings scheint Cael weitaus weniger Bedenken zu haben. Für ihn ist klar, dass er den Clan dann aufgeben wird und sein Label Mystic Music weiterführen möchte. Genau da beginnen Ilas Zweifel. Kann sie von Cael verlangen, sein Erbe aufzugeben? Er selbst meint klar Ja. Eines Abends, als sie wieder grübelnd auf der Terrasse sitzen, verdeutlicht ihr Cael seine Sicht: «Der Clan war lange Zeit meine Bestimmung. Davon war ich absolut überzeugt, bis ich dich getroffen habe. Erst da habe ich erkannt, dass in mir immer noch eine Sehnsucht schlummert. Genau diese Sehnsucht ist es, die mir sagt, dass ich den Clan jetzt loslassen darf. Das ist meine Überzeugung Ila, ob du dich für die Ausbildung entscheidest oder nicht, hat keinen großen Einfluss darauf.» Ila schaut hinaus in die Nacht und nach langem Schweigen meint sie schließlich: «Ich glaube, dass ich es sehen und spüren muss, um mich zu entscheiden.» Cael nickt zustimmend. «Ich nehme Kontakt zu Cree auf und bitte sie, dass wir die Sorfareilla so bald wie möglich besuchen dürfen.» Dankbar kuschelt sich Ila in seine Arme. Cael versteht ihre Zweifel, gibt ihr Zeit und Raum, sich selbst klar zu werden. Gleichzeitig lässt er aber auch nicht zu, dass sie dem Ganzen ausweicht. Die Entscheidung ist nah, das ist auch Ila klar und mit Cael an ihrer Seite, weiß sie, dass sie diese auch treffen kann. Die Sorfareilla zu sehen und die Energien zu spüren, erscheint Ila dabei als sehr wichtig. 

Foto: P. Tschannen
Foto: P. Tschannen

Die Schwesternschaft der Seelenheilerinnen und die Bruderschaft ihrer Hüter bilden die Sorfareilla. Beheimatet sind sie hoch oben in den Bergen, in einem abgelegenen Talkessel. Jetzt, im Winter, ist die Sorfareilla auf normalem Weg nicht erreichbar. Einzig Hexen und Zauberer können jetzt dorthin gelangen.

Rundherum ist Frieden und absolute Stille. Das Weiß des Schnees und das Blau des Himmels sind die vorherrschenden Farben. Das Farbenspiel wird unterbrochen durch die verschiedenen Hütten, die scheinbar willkürlich auf dem Gelände verstreut sind. In ihrem Zentrum ist ein einzelnes großes Steinhaus mit Terrasse, den Hütten für Wanderer nicht unähnlich. Dies ist das Herz der Sorfareilla. Es wird auch Olani, das Seelennest, genannt.

Das Portal, welches Ila und Cael drei Tage nach ihrem Entschluss, sich die Sorfareilla anzusehen, herbringt, endet unmittelbar vor dem Olani. Ila atmet tief durch. Die Luft ist dünn, was dafür sorgt, dass es ihr etwas schwindlig ist. Gleichzeitig ist diese Luft aber auch absolut klar. Noch einmal atmet sie durch, Cael, der beschützend hinter ihr steht, legt seine Hand auf ihre Schulter. Er will sie beruhigen. Es ist ihre Entscheidung, ob sie hierherkommen oder nicht. Vielleicht kann sie so ihren Weg klären. Ila seufzt. Alles ist so kompliziert. Cael drückt sie an sich und will ihr gerade nochmals versichern, dass er ihr überall hin folgen wird, da öffnet sich die Tür und Cree tritt zu ihnen heraus. «Seid Willkommen, möget ihr hier Frieden finden», spricht sie in der ihr eigenen Art. Cree ist durch und durch Heilerin, ihre Worte sind stets sanft und was sie sagt, ist immer wichtig. Sie umarmt zuerst Ila und dann Cael. Im Schatten der Tür erkennt Ila Gavril, der sich wohl nie weit von Cree entfernt. Eine Eigenschaft die auch Cael besitzt. Seit Yule hat sich dies noch verstärkt. Eigentlich müsste Ila sich daran stören, doch das tut sie nicht. Seine Nähe gibt ihr einfach Sicherheit und Ruhe. Und so wehrt sie sich auch nicht mehr dagegen. Es scheint ihr nicht mehr notwendig. Denn obwohl Cael ihr kräftemäßig noch immer überlegen ist, behandelt er sie ebenbürtig. Cree hakt sich bei Ila unter und führt sie ins Innere des Olani. Bei der Türe begrüßt auch Gavril die Gäste in seiner ruhigen zurückhaltenden Art. Drinnen ist es angenehm warm. Ein offenes Feuer prasselt, darüber hängt ein großer Kessel. Ein wenig fühlt sich Ila an Fays Hexenküche erinnert. Auch sonst hat das Haus irgendwie Ähnlichkeit mit Fays Zuhause. Und wieder kommen ihr beim Gedanken an ihre Freundin die Tränen. Die Verbindung zu ihr ist völlig abgebrochen und so weiß Ila nicht, wie es ihr geht. Beruhigend legt Cree ihre Arme um sie. «Du vermisst sie. Vertraue auf ihre und deine Stärke.» Es ist Ila fast etwas unheimlich, dass Cree weiß, wie es jetzt gerade in ihr aussieht. «Weißt du immer alles, was um dich herum geschieht?», erkundigt sie sich deshalb. Sie ist sich nämlich nicht sicher, ob sie damit umgehen könnte, wenn außer Cael noch jemand nahezu alles von ihr wüsste. Cree lächelt und erwidert: «Ja und nein. Ich nehme meist wahr, was die Wesen um mich herum belastet. Ich lasse aber nicht alles an mich heran. Das würde mir zu viel werden. Und manchmal schaffe ich es selbst nicht. Dann muss mich Gavril schützen.» Bei diesen Worten schiebt sich Gavril hinter Cree und zieht sie in seine Arme. Vertrauensvoll lehnt sich Cree an ihn. Es bedarf keiner empathischen Gabe, um die Liebe zwischen den Beiden zu spüren. «Sie tut nur so einsichtig, Cael. Jedes Mal, wenn ich es tue, wehrt sie sich dagegen und schimpft mich aus», erzählt Gavril mit einem Augenzwinkern. «Das wird zwischen uns nicht anders sein», vermutet dieser und überrascht Ila wieder einmal. Es erstaunt sie, dass Cael sich so einfach in seine Rolle als ihr Hüter hineingeben kann. Er, ein mächtiger Alpha in der Cumbatsidat und erfolgreicher Produzent, ist bereit, das alles aufzugeben. Als ihr Hüter wird er immer hinter ihr stehen, ihre Bedürfnisse über seine eigenen stellen und sie mit seinem Leben schützen. Er würde es tun und sie kann sich auch nur mit ihm eine so tiefe Verbindung vorstellen. Doch kann sie das von ihm verlangen? Cree reißt sie aus ihren Gedanken, als diese sie und Cael auffordert: «Kommt, setzt euch! Über die Wintermonate sind nur wenige von uns hier. Fast alle gebundenen Seelenheilerinnen verbringen diese Zeit mit ihren Hütern im Tal oder bei ihren Familien. Nur die Ungebundenen bleiben hier bei uns. Dies vor allem, weil ich will, dass sie sich über den Winter erholen und Kräfte sammeln.» Cree weist sie zum großen Holztisch. Er ist sehr lang und Ila überlegt, ob wohl alle immer gemeinsam essen. Eine Bewegung im hinteren Raum lenkt sie sogleich wieder ab. «Luzia und Dario haben für uns gekocht.» Mit einem Kochtopf in der Hand betritt die wohl schönste Frau den Raum, die Ila je gesehen hat. Sie ist die pure Sinnlichkeit. Ihr langes Haar leuchtet blauschwarz, ihre Haut ist makellos und hell. Alles in den Schatten stellen jedoch ihre faszinierenden türkisblauen Augen. Hinter ihr folgt ein nicht weniger beeindruckender Mann. Ila fühlt Caels Regung auf ihre Reaktion und grinst leicht. «Er ist wirklich schön. Aber du weißt ganz genau, zu wem ich gehöre.» Sie fühlt seine Hand im Nacken. Mit einem Finger streicht er quälend langsam ihre Wirbelsäule herunter. «Ich werde dich heute Nacht daran erinnern.» Ila reagiert unmittelbar auf seine Berührung und seine Worte in ihrem Geist. Schauer rieseln durch ihren Körper. Lust steigt in ihr hoch. Sie wirft ihm einen missbilligenden Blick zu, den er mit einem unschuldigen Zucken der Augenbrauen erwidert. «Essen ist fertig!», ruft nun Luzia die Treppe hinauf. Eine Türe knallt, lautes Gepolter und schon steht ein junges Mädchen, Ila schätzt sie knapp volljährig, mit leuchtend grünen Haaren da. «Timea, musst du immer so einen Lärm machen?» Genau hinter Timea erscheint eine weitere Hexe mit hellblonden Haaren und haselnussbraunen Augen. «Sorry, Finja, manchmal muss ich einfach. Sonst schlafe ich hier noch ein. Bist du die Neue?», sprudelt es aus Timea heraus. Neugierig betrachtet sie Ila, bleibt mit ihrem Blick jedoch an Cael hängen. Ein feiner roter Schimmer gleitet über ihr Gesicht. Ila glaubt so etwas wie Begehren zu fühlen, jedoch nur einen Hauch davon. «Bist du schon gebunden?», fragt sie nun. «Neugierig bist du ja überhaupt nicht», stellt Finja trocken fest. «Nein, ich will es nur wissen», gibt Timea schlagfertig zurück. Da muss Ila laut lachen. Es ist das erste Lachen seit langem. «Wie man es nimmt Timea. Ich bin an ihn gebunden, er aber noch nicht an mich», beantwortet sie die Frage bereitwillig. Nachdenklich stellt Timea den Kopf schräg. Ihre lebhaften Augen wandern zwischen Ila und Cael hin und her. «Willst du ihn nicht? Also, ich würde ihn dir sonst gerne abnehmen.» Finja schnappt entsetzt nach Luft und Luzia zischt Timea warnend zu. Doch Cael und Ila lachen beide. Sie mögen Timea mit ihrer direkten Art. «Ich danke dir für das großzügige Angebot. Ich will ihn jedoch durchaus. Allerdings ist Cree der Meinung, dass die Bindung erst vervollständigt werden soll, wenn ich ausgebildet bin», erläutert Ila. «Ach so, wie bei Lavina und Mirko. Wo sind sie überhaupt?» Kaum ausgesprochen steht ein junger Mann in der Tür. Mirko, schlussfolgert Ila. Als Erstes fallen ihr seine seelenvollen dunklen Augen auf. Ein Beschützer, aber er könnte ebenso gut ein Heiler sein. «Sie wird wieder lesen und nichts um sich herum wahrnehmen. Kannst du sie rufen Mirko?», bittet Cree. «Mirko hat Lavina an sich gebunden, weil die Gute sonst die Bodenhaftung vollends verlieren würde. Ist das bei dir auch so?», plappert Timea weiter. Neben Mirko manifestiert sich eine Lichtgestalt. Anders kann Ila es nicht beschreiben. Lavina ist von sehr schmaler Gestalt, zerbrechlich ist wohl das richtige Wort. Dunkelbraunes leicht gewelltes Haar fällt ihr über den Rücken, ihre schönen braunen Augen blicken verklärt in die Welt. «Timea, hör auf unseren Gästen indiskrete Fragen zu stellen! Setz dich besser hin und iss!», fordert Luzia. Die Angesprochene lässt sich neben Ila nieder und betrachtet als Nächstes die inzwischen auf dem Tisch platzierten Gefäße. «Oh, du hast Glück, solch ein feudales Menu haben wir selten», stellt sie zufrieden fest. «Wir versorgen uns größtenteils selbst. Mirko unterhält hier einen riesigen Garten, wo er anbaut, was in dieser Höhe möglich ist. Alles andere bekommen wir von seiner Familie, die unten im Tal einen Bauernhof betreibt. Auch das Reh ist von einem der Hüter erlegt worden. Es ist wichtig, dass wir uns ausgewogen ernähren. Von vegetarisch oder vegan halte ich nichts. Wir nehmen uns das, was wir von der Natur brauchen und tun dies mit Respekt», erklärt Cree. «Und Luzia ist eine phänomenale Köchin. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass sie es zaubert», ergänzt Timea. «Essen hext man nicht. Kochen ist in sich selbst schon Magie», erläutert Luzia mit strengem Blick. «Die sich mir wohl nie ganz erschließen wird», murmelt Timea.

In einem Punkt hat Timea Recht. Das Essen schmeckt vorzüglich. Ila isst mit großem Appetit und genießt die angenehme Gesellschaft. Es wird mehrheitlich leise gesprochen, jedoch nicht weniger lebhaft diskutiert. Jede der Seeleheilerinnen ist anders und doch gibt es da eine Verbindung, sie sind sehr feinfühlig. Keine von ihnen muss dies aussprechen und keine sich dafür rechtfertigen. Sie geben und nehmen voneinander völlig selbstverständlich. Ebenso unterschiedlich sind die Hüter, doch der Beschützerinstinkt gegenüber den Frauen verbindet auch sie. Dieses Bedürfnis, die Ihre zu schützen, wird von allen Seelenheilerinnen als manchmal schwierig bezeichnet. Dennoch akzeptieren sie es alle. Nur Luzia scheint damit noch ihre Schwierigkeiten zu haben. Dass Dario ihr Hüter ist, haben Ila und Cael sofort erkannt. Obwohl Luzias Ausbildung bereits beendet ist, haben sie sich noch nicht aneinandergebunden. Ila fühlt Luzias Angst vor der engen Bindung, während Cael wahrnimmt, wie schwer es für Dario ist, Luzia noch Zeit zu lassen. Sie sind gerade dabei, den Tisch abzuräumen, als es an der Haustür klopft. «Das sind Gianna und No. Gianna hat extra für euch Feramufor gemacht», jubelt Timea und stürzt zur Tür, um diese zu öffnen. Gianna und No sind eine Einheit. So wie Cree und Gavril es sind. Sie ist eine temperamentvolle glutäugige Tessinerin und ebenso lebhaft wie Timea. No, ganzer Name Noah, ist ein hochgewachsener Zauberer mit leicht asiatischem Einschlag. Bestimmt ist er der Ruhigere der beiden, aber Ila ist sich sicher, dass auch seine Leidenschaft nicht zu unterschätzen ist. Ein kleiner dampfender Kessel wird auf den Tisch gestellt. Cree verteilt die heiße Flüssigkeit in Tassen. Neugierig betrachtet Ila den Trank. Er ist nicht blau wie das Feramufor, welches sie von Fay kennt, sondern rot. Ila überlegt, ob es daran liegt, dass die Flüssigkeit noch heiß ist. Es ist Cree, die den Unterschied erklärt. «Dies ist Feramufor für Seelenheilerinnen. Es unterscheidet sich in der Rezeptur ein wenig vom Gängigen. Deshalb ist es auch dunkelrot. Und es schmeckt ähnlich wie Glühwein.» «Einfach himmlisch!», schwärmt Finja und nimmt einen großen Schluck. Dem stimmt Ila, nachdem sie selbst gekostet hat, unumwunden zu. Noch eine ganze Weile sitzen sie alle zusammen am Tisch, trinken Feramufor, erzählen einander aus ihrem Leben. Ila erfährt, wie es ist in der Sorfareilla zu leben und wie die Seelenheilerinnen ihre Arbeit tun. Bald wird Ila müde und kuschelt sich gemütlich an Cael. «Timea, du zeigst Ila wo sie heute schlafen können, während Cael mit den anderen Hütern noch den Rundgang macht.», ordnet Cree an.

Bereitwillig tut Timea was ihr geheißen worden ist. Fröhlich hüpft sie vor Ila die Treppe hoch und öffnet die Tür zu einem gemütlichen Schlafzimmer. Es unterscheidet sich sehr zu dem, was Ila vom Wolfsturm kennt. Hier ist es einfach heimelig. Viel Holz gibt dem Raum Wärme. Die Einrichtung ist sehr einfach. Ein Bett, ein Schrank, ein Waschbecken, welches nur durch Magie funktioniert, und ein kleiner Tisch. Für Ila ist klar, mehr braucht hier auch niemand. Rasch hilft Timea ihr noch, die Betten zu beziehen. «Wie war es, als Cael dich gefunden hat?», will Timea wissen. «Beängstigend», erwidert Ila ehrlich. Und als sie bemerkt, wie das Mädchen erschrickt, führt sie aus. «Wir haben beide nicht gewusst, was mit uns geschieht. Lange Zeit haben weder er noch ich verstanden, weshalb wir derart aufeinander reagieren. Erst als Cree und Gavril zu uns gekommen sind, hat das alles einen Sinn ergeben.» Timea nickt verstehend. «Du kannst jedenfalls glücklich sein, dass du deinen Hüter schon kennst. Ich weiß nicht, wer meiner ist. Manchmal spüre ich ihn, glaube ich jedenfalls. Aber immer, wenn ich versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, ist er schon wieder weg», erzählt Timea bereitwillig. «Ich fände es schön, wenn ihr hierbleiben würdet. Ich mag dich und ihn eigentlich auch», meint Timea und verlässt dann das Schlafzimmer. «Ich mag dich auch», spricht Ila leise, im Wissen, dass die Junghexe sie hören kann. Die Möglichkeit hier zu leben, erscheint Ila auf einmal nicht mehr so erschreckend. Und als Cael wenig später in das kleine Zimmer tritt, ist für Ila die Welt wieder ein kleines bisschen mehr in Ordnung. Wenn auch nur gerade für diese Nacht. 

Foto: P. Tschannen
Foto: P. Tschannen

Ila hat nur wenig geschlafen. Zum einen, weil sie und Cael natürlich nicht die Finger voneinander haben lassen können, und zum anderen, weil ihr Kopf voller Gedanken ist. Diese haben sie bereits aus dem Bett getrieben. Auf der Terrasse blickt sie in den Nachthimmel. Alles ist noch dunkel.. Es ist kalt, doch zum ersten Mal in ihrem Leben stört sie das nicht. «Zuhause. Das hier kann mir Zuhause sein», erkennt sie in dem Moment. «Was brauchst du, damit du Ja dazu sagen kannst?» Cree hat sich neben ihr manifestiert und beobachtet mit ihr zusammen die Sterne, die durch die Wolken blitzen. Ila betrachtet das Profil der Seelenheilerin neben ihr. Noch immer hat Ila keine Ahnung, wie alt Cree ist. Ihre Weisheit erscheint ihr beinahe unendlich und doch wirkt sie frisch wie ein junges Mädchen. Geduldig wartet Cree, bis Ila antwortet. «Keine Schuldgefühle», sagt Ila dann leise und auch etwas beschämt. Sie muss nicht mehr sagen, Cree versteht auch so. «Du kannst die Entscheidungen von anderen nicht beeinflussen. Cael hat in dem Augenblick beschlossen dein Hüter zu sein, als er dich an sich gebunden hat. Natürlich hat er das damals nicht gewusst, es ändert jedoch nichts an seinem Entschluss. Es ist sein Schicksal für dich da zu sein, und er würde niemals darauf verzichten, genau das zu tun. Und Fay hat ihr Leben aufgegeben, damit du deines leben kannst. Entehre dieses Opfer nicht, indem du es zurückweist.» Ila kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und lässt sie einfach zu. «Ich habe das nicht gewollt», presst sie hervor. Liebevoll nimmt Cree sie in die Arme. «Ich kann dir nur noch einmal sagen, es ist alles so, wie es sein soll. Dein und ihr Schicksal sind auf diese Weise miteinander verbunden. Vertraue darauf, dass du selbst weißt, was richtig ist. Und jetzt begrüße mit mir den neuen Tag.» Einen Arm um ihre Schulter gelegt, wendet Cree Ila wieder dem Himmel, der Welt zu. Und hier in dieser Stille, neben dieser außergewöhnlichen Hexe, wächst in Ila die Gewissheit, dass alles gut ist.

 

©by Patricia Tschannen, 2024

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