Meine Lieben,
(gewöhnt euch schon mal an diese Ansprache, sie wird so bleiben. Ich habe euch meine Leser*innen wirklich lieb). Heute möchte ich mit euch über eine Aussage sprechen, die mich regelmässig trifft. Ich glaube, ihr kennt sie ebenfalls. Ich spreche von:
«Wenn die Pflege nicht so schlecht über den Beruf sprechen würde, hätte er kein so schlechtes Image und mehr Leute würden den Beruf erlernen.» Zu hören ist das von Politiker*innen, von Gesundheitsinstitutionen und auch von Pflegenden selbst. Diese Aussage macht mich betroffen. Sie sagt aus, dass ich für das Problem des Fachkräftemangels verantwortlich bin. Weil ich die Dinge beim Namen nenne. Weil ich nicht mehr still und leise vor mich hin leide.
Ich verstehe die Aussage als Schutzreflex. Ehrlich auf die Situation im Gesundheitswesen zu schauen, tut weh und macht Angst. Da ist es einfacher, die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Schweigen, ist das Einzige, was mir bleiben würde. Denn schönreden resp. lügen entspricht nicht meiner Ethik.
Und darum möchte ich dieses: «Wenn die Pflege nicht so schlecht über den Beruf reden würde…» etwas näher betrachten. Wie immer ist das meine eigene Sicht und Haltung.
Ich halte diese Aussage für falsch und gefährlich
Zum einen, sprechen Pflegende nicht schlecht über ihren Beruf. Bei allem, was öffentlich über die Schattenseiten der Pflege kommuniziert wird, geht es um die Rahmenbedingungen und die Folgen davon. Es geht darum, dass die Arbeitsbelastung latent über dem leistbaren liegt. Es geht darum, dass Pflegende ihren Beruf gar nicht so ausüben können, wie sie es gelernt haben. Es geht darum, dass Pflegende immer wieder über ihre physische und psychische Leistungsfähigkeit gehen müssen. Mit gravierenden Folgen für die Pflegenden selbst, die moralischen Stress erleben, der im Burnout enden kann. Die Folgen für jene, die auf professionelle Pflege angewiesen sind, können bis zum Tod führen.
Was hat zu diesen Rahmenbedingungen geführt? Die Ursachen sind bestimmt vielschichtig. Die demografische Entwicklung gehört dazu. Sie ist nicht beeinflussbar. Die Tatsache, dass die Leistungen, welche die Pflege erbringt in keinem Tarifsystem korrekt abgebildet um somit auch nicht abgegolten wird, was die Institutionen in eine finanzielle Schieflage bringt hingegen schon. Dieser Umstand ist bekannt. Etwas daran geändert wird nicht. Das würde nämlich bedingen, dass Politiker*innen sich dieses komplexen Themas annehmen. Und Entscheidungen treffen. Da ist es einfacher, die Verantwortung wieder nach «Unten» zu verschieben und den Pflegenden zu unterstellen, sie würden zu viel jammern. So kann sich aber nichts verändert und wir rasen weiter auf die Dekompensation unseres Gesundheitswesens zu.
Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit investiert, dass Pflege in der Öffentlichkeit gehört wird und so der Druck auf die Politik, seine Verantwortung wahrzunehmen, erhöht wird. Ich bin überzeugt, wenn wir wieder still werden, wird der Eindruck entstehen, dass ja alles gut ist. Und wir werden noch mehr allein gelassen. Ich bin der Meinung, dass Pflege das tun muss, was «Real talk» genannt wird. Real talk bedeutet ungeschminkt, aber fundiert und differenziert zu sagen, was Sache ist. Auszusprechen, was passiert, wo die Probleme genau liegen und was gebraucht wird.
Real Talk: Unser Gesundheitswesen fährt gerade an die Wand. 300 Pflegende verlassen pro Monat den Beruf, viel zu wenige kommen nach. Bereits jetzt überlaufen Notfallstationen und Intensivpflegestationen regemässig. Wartezeiten, potenziell gefährdende Situationen, weil nicht schnell genug reagiert werden kann, sind die Folge. Alle beteiligten Disziplinen tun alles, um zumindest die Sicherheit noch gewährleisten zu können. Wie lange wir, das noch können, weiss ich nicht. Ich weiss nur, ich werde dann, wenn es nicht mehr geht, mittendrin sein und das aushalten müssen. Wenn es so weit ist, will ich die Gewissheit haben, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, um das zu verhindern. Indem ich meine Stimme erhoben habe. Indem ich über mein Erleben gesprochen habe. Und das so differenziert und klar, wie es mir möglich ist.
Wenn die Politiker*innen wollen, dass wir «gut über unseren Beruf sprechen», sollten sie ihren Teil der Verantwortung endlich übernehmen.
Wenn Arbeitgeber*innen wollen, dass wir «gut über unseren Beruf sprechen», sollten sie anfangen in jene zu investieren, die noch im Beruf sind. In den letzten Wochen habe ich vielerorts eher das Gegenteil gesehen. Die finanzielle Schieflage, die nicht in der Verantwortung der Pflege liegt, sondern ein politisches Problem darstellt, wird auf die Mitarbeitenden abgewälzt.
Woher die Institutionen das Geld zu investieren hernehmen sollen? Ich schlage vor, sie hören auf, irgendwelche Werbefilmchen zu Rekrutierungszwecken zu machen. Diese sind nämlich gewiss nicht gratis. Investieren das, in ihre Basis. Die beste «Werbung» sind nämlich Pflegende die sagen: «Da wo ich arbeite, ist es gut, da kann ich meinen Beruf noch richtig ausüben. Da wird zu mir geschaut. Da macht mir mein Beruf wieder Spass.»
Kommen wir noch zum Thema Image. Ich bestreite, dass Pflege ein «schlechtes Image» hat. Dazu sollten wir uns die Definition von «Image» in Erinnerung rufen:
«Image ist der Anglizismus für die Vorstellungen, welche die Öffentlichkeit von einer Persönlichkeit, Gruppe, Organisation, einem Unternehmen, dessen Produkten und Dienstleistungen oder von einer Stadt oder Ortschaft hat.» Quelle: Wikipedia
Wenn ich mit Aussenstehenden über meinen Beruf spreche, werden dem Berufsbild folgende Attribute zugeschrieben: vertrauenserweckend, kompetent, wichtig. Mir kommt viel Bewunderung und Respekt entgegen. Das Image der Pflegenden ist so gut, dass sie eine als «gewerkschaftlich» verschriene Initiative mehrheitsfähig machte. Das Image der Pflege war so gut, dass 61% der Bevölkerung die Pflegeinitiative annahm. Und anstatt die Stimmen aus der Pflege kleinhalten zu wollen, täten die Verantwortlichen gut daran, diese zu hören und miteinzubeziehen. Aber solange politisch mit sämtlichen anderen Playern des Gesundheitswesens gesprochen wird, nur mit der Pflege nichts, sind wir davon noch sehr weit weg. Solange das so ist, werde ich hier Real Talk sprechen.
Nun wünsche ich Euch allen Gesundheit, das höchste Gut, das sich keiner kaufen kann.
Eure Patricia Tschannen
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Therese Grossenbacher (Dienstag, 09 Januar 2024 08:03)
Liebe Patricia
Danke für deine sehr realen Ausführungen. Wir sprechen von einem bedenklichen Berufsumfeld, von Besorgnis- erregendem Klima in den Betrieben und vielem mehr.
Pflegende orientieren sich an dem was im „Hier und Jetzt“ stattfindet und Pflegende haben sich durch ihren Beruf verpflichtet, auf Missstände im Gesundheitswesen hinzuweisen und sich für konstruktive Lösungen einzusetzen. Nachzulesen im ICN-Ethikkodex für Pflegende welcher 1953 vom International Council of Nurses(ICN) verabschiedet wurde und letztmals 2012 überarbeitet wurde. Wir orientieren uns an diesen Werten basierend auf den vier Grundelementen:
1. Pflegende und ihre Mitmenschen
2. Pflegende und die Berufsausübung
3. Pflegende und die Profession
4. Pflegende und ihre Kolleginnen
Weshalb wir das tun, weil wir unseren Beruf lieben, ihn leidenschaftlich und mit Freude ausüben wollen und wir Menschen mögen!
Danke Patricia, für deinen Mut und die Kraft, dich immer wieder für diese Werte einzusetzen!