«Das mit dem Klatschen findet ihr ja nicht so gut», sagte neulich jemand zu mir. Es stimmt, für viele ist diese Aktion mit dem Klatschen auf dem Balkon, damals zu Beginn der Pandemie ein rotes Tuch. «Ihr könnt euch euren Applaus sonst wohin stecken» lautet sogar ein Buchtitel (Nina Böhmer). Dennoch: mir bedeutet die Erinnerung daran etwas. Dieser Applaus war in der Stadt zu hören. Ohne, dass er verstärkt wurde. Er war hörbar für mich, hat mir gesagt, wir sehen euch, wir denken an euch. Niemals werde ich diesen Gänsehautmoment vergessen. Zu diesem Applaus habe ich eine differenzierte Meinung oder wie einer meiner Lieblings – Kolumnisten (Bänz Friedli) sagt: Äs isch kompliziert: Dieser Applaus war Symbolik. Und von jenen, die damals nichts anderes für uns tun konnten, nehme ich diese gerne an. Ich störe mich aber sehr daran, wenn sich Verantwortungsträger*innen in Gesundheitswesen, Wirtschaft und Politik sich auf solchen symbolischen Gesten auszuruhen versuchen. Meine Damen bis Herren, das läuft einfach nicht mehr!
Warum macht viele dieser Applaus so wütend? Und warum ist «Dann klatschen wir doch noch einmal für die!» zu einem bitterbösen Running Gag geworden? Es ist die Sache mit der Wertschätzung. Diese Symbolik nützt uns nicht, wenn Wertschätzung nicht tag- täglich gelebt und erfahren wird. Wie ich das meine? Nun, am besten nehme ich euch mit, in einen meiner Nachtdienste. Und bevor wir in diese Welt eintauchen, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Alle Patient*innen, die ich betreue sind sehr krank, einige kämpfen um ihr Leben, auch wenn sie nicht mehr auf der Intensivstation sind, ihr Zustand ist fragil. Die meisten spüren das und sind sehr besorgt, was sich auf ihr Verhalten auswirkt. Bei den einen mehr und bei den anderen weniger.
Es ist ein Nachtdienst, in dem mir schon zu Beginn klar ist, dass ich das Arbeitspensum gar nicht bewältigen kann. Ich muss also Prioritäten setzen und entscheiden, welche Aufträge ich erledige und welche nicht. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das nicht oft der Fall ist. Aber leider ist das mittlerweile der Normalfall. Ich betrete also den Vierersaal. Bevor ich dazu komme, mir einen Überblick zu verschaffen, streckt mir schon der Erste seinen Waschlappen hin, ich solle den bitte noch einmal nass machen. Ich trete an sein Bett, erkläre, dass ich jetzt zuerst Antrittskontrolle mache. Ich kontrolliere alle Zu – und Ableitungen, die laufenden Infusionen, spüle die Ernährungssonde. Und am Schluss nehme ich den Waschlappen, mache ihn nass. «Danke», sagt der Patient. «Sehr gerne», erwidere ich.
Seine Bedürfnisse äussern, auch mal warten können, Danke sagen, das ist für mich Wertschätzung.
Der nächste Patient spricht nur in Stichworten zu mir. «Wasser!» «Toilette» «Finken», blafft er mich an. Nun kenne ich den Patienten schon einige Nächte und ich weiss, er hat keine kognitiven Einschränkungen. Heute habe ich den Spätdienst gefragt, ob dieser Patient auch in ganzen Sätzen sprechen kann. Es wurde mir bejaht. Ich beschliesse, diese Art von Kommunikation nicht mehr länger hinzunehmen: «Ich möchte, dass Sie in ganzen Sätzen mit mir sprechen.» Ich begleite den Patienten auf die Toilette und wieder zurück. Ich helfe ihm aufs Bett und schliesse sämtliche Geräte wieder an den Strom an. Da streckt mir der Patient seine Füsse entgegen. Ich schaue ihn fragend an. Er: «Socken!» Ich fühle, wie ich wütend werde. Und gleichzeitig, weiss ich, dass ich eigentlich gar keine Zeit habe, diese Auseinandersetzung zu führen. Dennoch ich bin es mir selbst wert, nicht zu zulassen, dass so mit mir umgegangen wird.
Für mich ist Wertschätzung: Es mir selbst wert sein.
«Herr X. Es stört mich, dass Sie nur in Stichworten mit mir sprechen. Ich will, dass Sie in ganzen Sätzen mit mir reden, wie mit allen anderen Menschen auch.» Während der Nacht braucht es noch drei Anläufe, bis der Patient begreift, dass es mir ernst ist und er tatsächlich ganze Sätze bildet.
Für mich ist Wertschätzung: Angemessen miteinander zu kommunizieren.
Ich gehe weiter in das nächste Zimmer. Die Patientin, der ich ein Antibiotikum über die Infusion verabreichen muss, hat sich so eingemummelt, dass ich nicht an den Dreiweghahn der Infusion komme. Behutsam versuche ich, mir Zugang dazu zu erschaffen. Die Patientin erschrickt und wehrt mich ab. Verständlich, würde ich auch, wenn man mir die Decke wegnehmen würde. «Exgüse, Frau X, ich muss an die Infusion, um das Antibiotika anzuhängen», erkläre ich leise. Nun komme ich problemlos an den Dreiweghahn und kann das Medikament anschliessen.
Wertschätzung ist für mich: Zu verstehen, dass ich Gutes tun will und das manchmal heisst, dass ich wecke oder sonst irgendwie störe.
Bei ihrer Zimmernachbarin muss ich die Nahrungssonde spülen. Während ich bei der anderen Patientin bin, sehe ich, wie sie den Schlauch so zurecht legt, dass ich direkt an den Dreiweghahn gelange. «Danke». Flüstere ich. Sie lächelt und schläft weiter.
Wertschätzung ist für mich: Mitzudenken und mitzuarbeiten.
Im nächsten Zimmer messe ich einen Blutzucker. Er ist immer noch viel zu niedrig. Und das, obwohl meine Kollegin vom Spätdienst dem Patienten bereits Traubenzucker, Orangensaft und Joghurt gegeben hat. Ich zücke das Telefon und rufe den Dienstarzt an. Ich schildere das Problem und frage dann: «Ich gebe ihm jetzt noch einmal Traubenzucker und Orangensaft. Kann ich ihm, wenn er in einer halben Stunde nicht adäquat gestiegen ist, Glucose 5% i/v geben. Ich weiss, ihr macht das nicht so gerne. Aber meine Erfahrung nach, kommen sie so nachts besser auf ein akzeptables Niveau.» Ich frage das, weil ich weiss, dass der Dienstarzt gleich in den OP muss. Der Dienstarzt vertraut meiner Erfahrung und gibt mir sein ok.
Wertschätzung ist für mich: Interdisziplinär auf Augenhöhe zu arbeiten.
Die Nacht nimmt ihren Lauf. Sie ist anstrengend, obwohl die meisten Patient*innen stabil sind, gibt es viel zu tun: Medikamente verabreichen, Vitalparameter messen und am Schluss noch die Blutentnahmen. Dazwischen bringe ich Tee, Schmerzreserven, kalte Waschlappen. Mein Essen nehme ich während ich dokumentiere ein.
Es wird morgen. Die ersten Kolleginnen von der Tagschicht erscheinen. «Guten Morgen, wie war deine Nacht», begrüssen sie mich. Ich erzähle kurz, was mich gerade beschäftigt. Sie hören zu. Auch meine Stationsleiterin fragt mich kurz, wie es mir geht. Und ob ich noch etwas brauche. «Gib ab, und dann gehst du nach Hause. Schlaf gut.»
Für mich ist Wertschätzung: Anteilnahme und einander Sorge tragen.
Das Postauto fährt mich, nach dieser langen Schicht nach Hause. «Schöne Tag, Merci», rufe ich dem Poschi – Chauffeur noch zu, als ich aussteige.
Für mich ist Wertschätzung, ein Merci, und ein Lächeln.
Ein so langer Text nur über Wertschätzung. Ja, ein so langer Text. Denn für mich ist es nicht mein Lohn alleine, der mich auch die nächste Nacht mit frischem Mut angehen lässt. Es sind diese kleinen Gesten der Wertschätzung, die dafür sorgen, dass ich Pflege nicht aufgebe.
Ein Gedicht (Verfasser unbekannt, jedenfalls mir) beginnt mit den Zeilen: Ein Lächeln kostet nichts, aber es gibt viel. Und damit möchte ich diesen Text um die Sache mit der Wertschätzung beenden.
«Ein Lächeln kostet nichts, aber es gibt viel.»
Patricia Tschannen,
Pflegefachfrau HF, Visionärin, Bloggerin, Autorin
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Andreas Schweizer (Dienstag, 11 Juli 2023 20:27)
Darf ich zurück lächeln?
So wunderschön, Dein Text, der Deine Haltung so wunderschön widerspiegelt. Tolle Kernsätze so wundervoll eingebettet in Deine Lebenserfahrung. Danke.
Therese Grossenbacher (Dienstag, 11 Juli 2023 22:01)
Danke für diesen wertvollen Beitrag zur Wertschätzung Patricia.
Wertschätzung heisst das Gegenüber wahrnehmen, einander auf Augenhöhe zu begegnen, reflektieren. anerkennen, fördern, fordern, sich zeigen, in diesem jetztigen Moment.
Wertschätzung ist auch, auf diesen Text von Patricia zu reagieren, mit dem was uns zur Verfügung steht.
Markus Stadler (Mittwoch, 12 Juli 2023 09:22)
Mal wieder, Schritt für Schritt, sehr gut nachvollziehbar, liebe Patricia. Man kommt sich vor, als würde man Dich auf dem Nachtdienst begleiten.
Aber eben. "Blaffen" und "Kommunikation in Stichworten" haben nicht zwingend etwas mit kommunikativer Einschränkung zu tun. Solche Patienten dürfen (und müssen) durchaus zur Rede gestellt werden... wie Du das ja auch machst... taktvoll, aber bestimmt... genauso, wie ich Dich kenne.
Schiefelbein Daniel (Mittwoch, 12 Juli 2023 11:39)
Seeehr gut, danke