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Das Warum

Kürzlich ist mir mein Schulzeugnis in die Hände gefallen. Natürlich habe ich es angeschaut. Schliesslich bildet es meine Schulzeit ab. In Zahlen. Diesen kann nicht abgelesen werden, wie es mir damals ging. Mir ist viel passiert in dieser Zeit. Ich war unsportlich, langsam im Rennen, hatte Angst vor dem Ball und ich war anders. Ich war eine Träumerin, ich las gerne und ich schrieb Geschichten. Da wo ich aufwuchs, war «man» nicht so.

Heute hat das, was mir geschah, nämlich Spott, Hohn, Häme, Ausschluss aus der Gruppe, einen Namen: Mobbing. Von der 6. Bis in die 8. Klasse wurden nicht nur meine psychischen Grenzen, sondern auch meine physischen überschritten. Ich wurde angespuckt, getreten und betatscht. Ich schreibe das hier nicht, weil ich irgendjemanden anklagen will. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich schreibe das, weil es zu meinem Warum gehört. Wie bereits gesagt, meinem Schulzeugnis ist nicht abzulesen, was damals geschah. Meine Noten waren gut. Mein Abschlusszeugnis ist sogar sehr gut. Und während ich dieses Zeugnis in der Hand habe, stelle ich fest: «Das habe ich geschafft, obwohl es mir damals so beschissen ging.» Das hat mich beschäftigt. Wie war das möglich? Mir wurde klar, ich habe das gekonnt, weil es für mich immer ein Leben nach der Schule gab. Weil ich schon damals wusste, irgendwann würden die Menschen, die jetzt Macht auf mich ausübten, keinen Zugriff mehr auf mich haben. Bereits seit der 2. Klasse wusste ich, dass ich Pflegefachfrau werden will. Keine Ahnung warum, aber es war so. Das war meins. Da würde ich jemand sein, das würde ich können. Ich war Realschülerin, ich wusste, der Weg dahin würde weit sein, aber ich würde es schaffen. Und ich habe es geschafft. Ich wurde Pflegefachfrau HF. Für mich fühlte sich das an, wie in Göläs «Schwan»: «Vergässe, was isch gescheh und Flügel trage sie so wiet.» Bis mich im 2015 meine Schulzeit einholte. Ich hatte gerade die Stelle gewechselt, war von der Psychiatrie zurück in die Somatik. Alles neu, alles sehr schnell und ich musste mich in einem Team mit sehr starken Persönlichkeiten zurechtfinden. Und plötzlich war sie da, die Erinnerung. Mein Körper erinnerte sich, wie es war, ausgeschlossen, ausgelacht, geschlagen zu werden, weil ich war, wie ich war und blockierte. Mattscheibe. Nichts ging. Jeden Tag fürchtete ich, in einer Notfallsituation nicht handlungsfähig zu sein und so jemanden ernsthaft zu gefährden. Ich fror innerlich ständig bis auf die Knochen, ich wurde sehr still und machte mich klein. Schon bald wusste ich, dass ich so nicht weiter machen konnte. Ich träumte, von der Schule, während der Arbeit kamen Bilder hoch und ich hörte die Stimmen meiner ehemaligen Mitschüler. Kurz, ich hatte das, was ich später «liebevoll» Klassentreffen nannte. Ich hatte die Wahl, meinen geliebten Beruf aufgeben oder mich diesem Trauma stellen. Und eben weil mein Beruf mir so viel bedeutet, wählte ich Letzteres. Der Weg war schwierig, die Zeit hart. Am Ende stand die Erkenntnis: In dem Moment, in dem für mich alles auf dem Spiel stand, wusste ich tief in mir drin: Ich werde leben und ich werde gut leben. Während meiner Traumabearbeitung erhielt ich wieder den Kontakt zu diesem Kern in mir. Diesen Kern nenne ich meine Hexenseele. Ich konnte meinen geliebten Beruf weitermachen, war wieder leistungsfähig, eigentlich so leistungsfähig wie noch nie. Ich spürte ganz viel Potential in mir. Zum ersten Mal in meinem Leben, war ich nicht damit beschäftigt, zu «überleben».

Ich schaffte es, mich auf der Station einzuleben und in diesem hektischen, komplexen Pflaster meine Pflegefachfrau zu stehen. Im Team fand ich meinen Platz und es kam der Tag, an dem ich «Patty» genannt wurde. Ich hatte einen Spitznamen und war somit Teil des Teams. Alles eitel Sonnenschein? Hätte es sein können. Wenn da nicht der Fachkräftemangel wäre. Jeden Tag war ich damit konfrontiert, dass ich diesen Beruf, den ich so sehr liebte, für den ich so viel getan hatte, nicht so ausüben konnte, wie ich es gelernt hatte. Natürlich war ich schon vorher mit dieser Tatsache konfrontiert gewesen, doch jetzt war ich nicht mehr bereit, das einfach so hinzunehmen. Ich begann mich mit den Problemen in der Pflege auseinanderzusetzen. Immer stärker wuchs in mir der Wunsch, etwas dagegen zu tun. Meiner Meinung nach war die Stimme der Pflege in der Öffentlichkeit einfach viel zu leise. Sie wurde zu wenig gehört. Und da wollte ich ansetzen. Da schreiben mir immer schon leicht fiel, entschied ich mich fortan zu bloggen. Die Pflegehexe war geboren. Seit dem schreibe ich über den Beruf, den ich liebe und den ich nicht aufgeben will. Ich schreibe darüber, was ich erlebe, und was Pflegende brauchen, um ihn ausüben zu können. Ich bin Stimme. Ich schreibe meine Meinung zu gesundheitspolitischen Themen. Und ich lasse mir die Stimme nicht verbieten. Ich bin ich. Und ich bin gut so.

Pflegefachfrau werden zu wollen, hat mich durch die dunkelsten Stunden meiner Jugendzeit gerettet. Pflegefachfrau sein zu wollen, hat mich dazu gebracht, meine Wunden zu heilen. Pflegefachfrau bleiben zu wollen, hat mich zur Bloggerin und Aktivistin gemacht.

Heute am 12. Mai, trinke ich ein Glas, auf den schönsten Beruf der Welt auf alle meine Kolleg*innen und auf alle, die sich mit mir für diesen Beruf einsetzen.

 

Patricia Tschannen

 

Pflegefachfrau HF

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Kommentare: 5
  • #1

    Städler Regula (Freitag, 12 Mai 2023 11:26)

    Wow so schön was du erreicht hast! Danke für deine Texte, sie sind so wertvoll und gut geschriebem.

  • #2

    Markus Stadler (Freitag, 12 Mai 2023 13:19)

    Liebe Patricia
    LinkedIn. Eine dieser Plattformen, auf denen Schein meistens mehr zählt als Sein. Meistens. Aber nicht immer. Dank Menschen wie Dir, mit einem derart ehrlichen und mitten durchs Herz gehenden "Sein"-Text.
    Einmal mehr... danke!

  • #3

    Monika (Freitag, 12 Mai 2023 23:46)

    Der beste Beitrag, den ich zum heutigen Tag der Pflege gelesen habe. Danke dafür und weiterhin viel Energie �

  • #4

    Cornelia Gerber (Samstag, 13 Mai 2023 08:37)

    Meine liebe Soulsister
    Die passenden Worte fehlen mir…deine Worte berühren mich und es ist ein Zauber wie du schreibst….ach die Worte fehlen mir wirklich, aber ich hab dich lieb. Ich bin so froh dass unsere Wege sich seit der Schulzeit immer wieder gekreuzt haben und sich seit einigen Jahren kraftvoll begleiten. �

  • #5

    Christina Frank-Fischer (Montag, 29 Mai 2023 14:34)

    Danke für dä Teggscht, für d Tränä i mine Ouge bim Läsä u danke, ha i di dörfe lehrä kennä, erinnere mi gärn dra, ou wes trurigi Momäntä het gä. vilich chrüze üs üsi Wägä wider mau�. Mach witer so-du machsch so ä tolli Arbeit u i lise sehr gärn vo dir!�